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Warum wir nicht „klimaneutral“ sein sollten

 

Ein Kommentar von Michael Schmidt-Salomon.

https://www.giordano-bruno-stiftung.de/meldung/klimawandel-evolutionaerer-humanismus


Die Menschheit muss ihre Wirtschaftsweise ändern, um die globale Erwärmung zu begrenzen. Wahr ist aber auch, dass der menschliche Einfluss auf das Klima eine nicht minder gefährliche ökologische Katastrophe verhindert. Würde die „Fridays for Future"-Bewegung dies berücksichtigen, könnte sie an Glaubwürdigkeit gewinnen.

Das Universum, das wir beobachten können, verfügt über exakt jene Eigenschaften, die es haben müsste, wenn sich dahinter kein „göttlicher Heilsplan“ verbirgt, sondern bloß das blinde Walten von Zufall und Notwendigkeit. Aus diesem Grund ist die Erde kein „Paradies“, in dem wir in ewiger Glückseligkeit fortexistieren könnten, sie bietet uns bloß – und auch das nur innerhalb eines begrenzten Zeitfensters – eine halbwegs stabile ökologische Nische, in der aufrechtgehende Primaten einigermaßen komfortabel leben und sich vermehren können.

Wie labil das ökologische System ist, in dem wir leben, ist heute vielen Menschen durch die Debatten zum Klimawandel bewusst geworden. Es ist inzwischen hinreichend belegt, dass wir durch unsere Produktions- und Konsumtionsweise zu einem gesteigerten Treibhauseffekt und – damit verbunden – zu einem erdgeschichtlich rasanten Anstieg der globalen Temperaturen beitragen. Und es sollte klar sein, dass wir wirksame Gegenmaßnahmen einleiten müssen, da ein ungebremster Klimawandel schwerwiegende Folgen für die menschliche Zivilisation wie auch für einen Großteil der nichtmenschlichen Tierwelt haben würde.

Allerdings – und auch dies gehört zwingend zu einer evidenzbasierten Betrachtungsweise der Welt: Der hohe Anteil von Kohlendioxid in der Atmosphäre, der uns so große Sorgen bereitet, hat zugleich einen wohl noch verheerenderen Klimawandel verhindert, nämlich den Beginn einer neuen Kaltzeit innerhalb der gegenwärtigen Eiszeit.

Um dies zu erklären, muss man etwas weiter ausholen: In den längsten Phasen der Erdgeschichte gab es kein Eis an der Polen. So fand der Aufstieg der Dinosaurier und später auch der Säugetiere in einem Warmzeitalter statt, bei der die globale Temperatur deutlich höher lag als heute. Die gegenwärtige Eiszeit begann vor 2,6 Millionen Jahren, weshalb wir uns mit Fug und Recht als „Eiszeitmenschen“ bezeichnen können. Glücklicherweise leben wir jedoch in einem Interglazial, das heißt: in einer gemäßigten Warmzeit innerhalb einer Eiszeit. Das gegenwärtige Interglazial, das sogenannte Holozän, auf das die menschliche Zivilisation, wie wir sie kennen, angepasst ist, begann vor etwa 12.000 Jahren. Insofern müssten wir eigentlich damit rechnen, dass es mit den für uns angenehmen, milden Temperaturen schon recht bald vorbei sein könnte, denn derartige Warmzeiten innerhalb eines Eiszeitalters haben im Durchschnitt nur eine Dauer von etwa 10.000 bis 15.000 Jahren.

Seit längerem ist schon bekannt, dass der Übergang von einer interglazialen Warmzeit in eine glaziale Kaltzeit vom Grad der Sonneneinstrahlung und der Größenordnung der in der Atmosphäre enthaltenen Treibhausgase bestimmt wird. Exaktere Erkenntnisse hierzu liegen uns allerdings erst seit 2016 vor, dank eines – wie ich meine – spektakulären Artikels, den Andrey Ganopolski in Kooperation mit zwei weiteren Kollegen vom „Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung“ (PIK) im Fachmagazin „Nature“ veröffentlicht hat.

 

Wir sind nur knapp einer Kaltzeit entkommen


Die Forscher konnten nicht nur die Bedingungen bestimmen, die für den Übergang von einer interglazialen Warmzeit zur glazialen Kaltzeit verantwortlich sind, sie fanden auch heraus, dass die Menschheit nur sehr knapp dem Schicksal einer Kaltzeit entronnen ist. Hätte nämlich der Kohlendioxidgehalt in der vorindustriellen Zeit (etwa im 18. Jahrhundert) nur 240 ppm („parts per million“) statt der tatsächlichen 280 ppm betragen, wären jene fatalen, selbstverstärkenden Prozesse eingeleitet worden, die uns aus dem angenehmen Holozän heraus – und in eine ungemütliche neue Kaltzeit hineingeführt hätten. Bei der Frage, warum der Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre damals um diese zwar marginal erscheinenden, aber höchst bedeutsamen 0,004 Prozentpunkte (40 ppm) höher lag, verwiesen die Forscher auch auf einen möglichen Einfluss des Menschen in der vorindustriellen Zeit, etwa auf die weitflächige Abholzung von Wäldern, welche die Reduzierung des überschüssigen Kohlendioxids im Zuge der Photosynthese verhindert hat.

Und dies ist nun in der Tat ein interessanter Befund: Denn dass das Abholzen von Wäldern unter bestimmten Umweltbedingungen eine verheerende ökologische Katastrophe verhindern könnte, widerspricht völlig unseren moralischen Intuitionen, die letztlich auf einem romantischen Naturbild gründen. Aber dies zeigt nur, dass das aus religiösen Vorstellungen („Heiligkeit der Schöpfung“) gespeiste romantische Naturverständnis den Blick auf die Realität verstellt. Die Natur ist eben nicht „gut“ und der Mensch nicht „böse“. Mit Moralismus bzw. einem unreflektierten „Alternativradikalismus“ (Hans Albert) kommen wir in der Sache nicht weiter: Wir müssen genauer hinschauen, um die ökologischen Wechselwirkungen zu verstehen, die unser Überleben garantieren. Zwar müsste die „For Future"-Bewegung moralisch abrüsten, wenn sie den menschlichen Beitrag zum Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre nicht mehr per se als „klimaschädlich“ verteufeln würde, aber gerade dadurch könnte sie an Glaubwürdigkeit gewinnen und die Argumente sog. „Klimaskeptiker“ wirksamer entkräften.

War der Einfluss des Menschen auf das Weltklima in der vorindustriellen Zeit noch schwach ausgeprägt (weshalb er in der Forschung unterschiedlich bewertet wird), so ist er heute unübersehbar: Im Zuge der industriellen Revolution ist der Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre von den 280 ppm im 18. Jahrhundert auf über 400 ppm angestiegen und er wird sich in der nahen Zukunft noch weiter erhöhen. Ganopolski und seine Kollegen kamen daher zu dem bemerkenswerten Schluss, dass wir angesichts der Verweildauer des Kohlendioxids in der Atmosphäre wohl in den nächsten 50.000 bis 100.000 Jahren nicht mit dem Ausbruch einer neuen Kaltzeit rechnen müssen.

Dem menschlichen Einfluss ist es also zu verdanken, dass das Holozän ein außergewöhnlich lang andauerndes Interglazial werden könnte – es sei denn, wir kriegen unsere Treibhausgasemissionen nicht in den Griff. Denn dann könnte aus der interglazialen Warmzeit ein echtes Warmzeitalter werden, also ein neues Erdzeitalter ohne Eis an den Polen. Zwar würde die menschliche Zivilisation in einer solchen Warmzeit vermutlich sehr viel eher noch überleben können als in einer glazialen Kaltzeit, doch die ökologischen, sozialen und kulturellen Verwerfungen, die im Übergang vom Eiszeitalter zum Warmzeitalter stattfinden würden, hätten gewaltige Ausmaße.

 

Nichts ist beständiger als der Wandel


Wir lernen aus alldem, dass Darwins berühmter Satz „Nichts ist beständiger als der Wandel“ selbstverständlich auch für das Weltklimasystem gilt. Wir Menschen müssen uns den Wandlungsprozessen der Erde anpassen bzw. – sofern möglich – alles Erdenkliche tun, um zu verhindern, dass diese Wandlungsprozesse unsere angestammte ökologische Nische zerstören. Deshalb auch ist „Klimaneutralität“ bei genauerer Betrachtung kein sonderlich kluges Konzept, denn wären wir wirklich „klimaneutral“, würden wir unweigerlich auf eine neue Kaltzeit zusteuern. Statt „klimaneutral“ zu sein, kommt es also darauf an, auf intelligente Weise „klimaeffektiv“ zu sein, um die für uns (und auch für andere empfindungsfähige Tiere) angenehme ökologische Nische des Interglazials zu erhalten, was im „natürlichen Bauplan“ der Erde leider überhaupt nicht vorgesehen ist.

Aus diesem Grund können wir uns nicht allein darauf konzentrieren, den „negativen Fußabdruck der Menschheit“ zu reduzieren (auch wenn diese Haltung einem weit verbreiteten puritanisch-moralischen „Bußreflex“ entsprechen mag). Unser Ziel muss stattdessen darin bestehen, den „positiven Fußabdruck der Menschheit“ zu erhöhen, wie es die Cradle to Cradle-Denkschule schon seit Jahren im Einklang mit humanistischen Werten fordert.

Im Kern geht es also darum, einen „intelligenteren Stoffwechsel mit der Natur“ zu etablieren – keineswegs nur, aber eben auch im Hinblick auf das Weltklimasystem. Zwar muss auf dem Gebiet der Klimasensitivität bzw. des Geoengineerings noch sehr viel mehr geforscht werden, aber im Grunde wissen wir bereits heute, was getan werden müsste: Etwa, dass wir (im Unterschied zu den vorangegangenen Generationen) die Wälder aufforsten statt abholzen müssen, um einer fatalen Klimaveränderung entgegenzuwirken. Oder dass wir insbesondere in den ärmeren Regionen der Erde den Wohlstand erhöhen und die Bildungssysteme verbessern müssen, um den Anstieg der Weltbevölkerung zu begrenzen – was zeigt, dass wir die 17 „Global Goals“ der UN gemeinsam, also systemisch, angehen müssen. Ein isolierter Klimaschutz, der ökonomische, soziale oder kulturelle Faktoren ausblendet, wird nicht funktionieren.